Bei einem Besuch des  jüdischen Friedhofs Stralsund in der Greifswalder Chaussee erforschten die Schülerinnen und Schüler des Hansa-Gymnasiums im November 2020 die Gräber der Vorfahren von Bärbel Beyer-Cohn. Aus diesem Anlass sandte sie das nachstehende Grußwort:

Lieber Mark Fleckeisen, liebe Schülerinnen und Schüler,

ich freue mich sehr über Eure Zusammenkunft an diesem geschichtsträchtigen Ort. Ich denke da an die Kaufhausdynastie Wertheim: mein Vater erzählte mir, daß der „alte Wertheim“ mit einem Bauchladen zu Fuß über die Dörfer zog, Garne, Knöpfe usw. verkaufte.

Ich las 1945 in einem Brief, den mein Vater an seinen Bruder, der sich noch in der Emigration befand, schrieb: wenigstens haben sie unseren Friedhof nicht geschändet. Diese Tatsache war meinem Vater
offensichtlich wichtig. Mein Vater ließ von einem Schmied ein neues Tor anfertigen und die Torpfosten neu mauern. Die Genehmigungen für das Material bekam er vom russischen Kommandanten.

Meine Mutter ging mit mir, ich war damals 8 Jahre alt, die Gräber meiner jüdischen Großeltern besuchen. Ich fand es beeindruckend. Alle Gräber waren gleich, sie standen in Reihen parallel zur Straße alle gleich, alle mit Efeu bewachsen, nur die Grabsteine waren unterschiedlich. Ich weiß noch genau, die Gräber meiner Großeltern waren in der 2. Reihe. Ich war erstaunt, daß mein Großvater bereits 1902 verstorben war. Meine Mutter erzählte mir, daß er an einer Blutvergiftung gestorben war, er hatte sich beim Aufschneiden eines Brötchens geschnitten. Meine Mutter schilderte mir, wie meine Großmutter mit dem Geschäft und vier kleinen Kindern im Alter von eins bis vier Jahren ) alleine fertig werden mußte. Sie hat es offensichtlich hervorragend gemeistert.

Der jüdische Friedhof war immer einer meiner Fixpunkte wenn ich – zu DDR-Zeiten- Stralsund besuchen konnte. Ich erinnere mich noch an mein Entsetzen, als ich 1990 die Umgestaltung zu einer Gedenkstätte vorfand. Die Gräber waren eingeebnet, die Grabsteine wahllos an die Ränder gestellt. Ich bat das Grünflächenamt wenigstens die Grabsteine meiner Großeltern zusammen zu stellen. Ich bekam die Antwort, eine Gedenkstätte dürfe nicht verändert werden. Irgendwer hat dann doch dafür gesorgt.

Als meine Cousins und ich eine Gedenktafel vor den Grabsteinen für die ermordeten Familienmitglieder niederlegen wollten, habe ich vorsichtshalber den Landesrabbiner eingeschaltet, es wurde genehmigt. Der Sohn des Steinmetzes, der diese Tafeln fertigte (auch die vor der Familie Joseph) hat als Gesellenstück den Granitstein in der Mitte des Friedhofs gefertigt und der Stadt geschenkt.

Der jüdische Friedhof gehört zu meinen jüdischen Wurzeln, auf die ich stolz bin. Es tut mir weh, wenn der Sprachgebrauch des Hitlerregimes verstärkt in unsere Gesellschaft zurückkehrt. Wenn selbst
Regierungsmitglieder von jüdischem Leben in Deutschland, der Beziehung von Juden und Deutschen
sprechen. Ich bin deutsche Staatsbürgerin, meine Religionszugehörigkeit kann unterschiedlich sein. Jude zu sein ist auch nicht gleich zu setzen mit der Staatsbürgerschaft Israels, dort leben viele Christen, Muslime, Juden – in Haifa steht z.B. ein Bahai-Tempel.

Die Ehefrau vom jüngsten Bruder meines Vater lebte im Altersheim der jüdischen Gemeinde in Berlin. Ich mußte mich immer selbst dazu zwingen, meine Tante zu besuchen. Das Heim wurde wie eine Festung bewacht. Der Schäferhund einer der Polizisten freute sich immer auf meine Streicheleinheiten. Aber ernsthaft, hat einer von Euch je ein bewachtes Seniorenheim gesehen?

Ich würde mich freuen, wenn in Zukunft Juden normal und unauffällig in Deutschland und aller Welt leben können, wenn sie nicht bewacht und beschimpft werden, wenn ihre Religion nicht hervorgehoben wird.

Wenn ich könnte würde ich Worte wie Gewalt, Hass und Kampf aus unseren Gehirnen und dem Vokabular streichen. Jeder Mensch ist wertvoll und hat ein Recht auf Leben.

In diesem Sinne wünsche ich allen Teilnehmern eine nachhaltige Veranstaltung.

Ich grüße alle herzlich.
Bärbel Beyer Cohn

Bärbel Beyer-Cohn hat sich sehr verdient gemacht, um ihre Lebensgeschichte mit Stralsunder Schülerinnen und Schülern zu teilen.